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Die Verhaftung von 48 Rechtsanwälte*innen und 7 Rechtsreferendar*innen in Ankara (11 September 2020) und die Verhaftung von 32 Rechtsanwälte*innen in Izmir (22 September 2020)

Dieser Artikel wurde von Lawyers in Exile vorbereitet und von Human Rights Defenders e.V. übersetzt

Mit der neuen Gesetzgebung bezüglich der Anwaltskammern, und der Rede Präsident Erdogans an der Jahresauftakt Veranstaltung der Justiz mit den Sätzen „Es ist nicht möglich das Anwälte die Terroristen verteidigen auch so agieren. Wenn sie doch noch dies tun müssen sie einen Preis dafür bezahlen“  gab Präsident Erdogan das Signal für eine neue Phase der Unterdrückung und Verfolgung von Anwälte*innen. Kurz nach dieser Rede beschloss die Staatsanwaltschaft von Ankara heute (11. September 2020), 48 Anwälte, 7 Rechtsreferendar*innen, 4 zuvor entlassene Richter*innen und einen Juristen wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ festzunehmen.

Zehn Tage nach dieser Entscheidung, am 22. September 2020, ordnete die Generalstaatsanwaltschaft von Izmir die Inhaftierung von 32 Anwälte*innen an, darunter Studenten der Rechtswissenschaftlichen Fakultät. Die festgenommenen Personen werden voraussichtlich 12 Tage lang in U-Haft sein und erst danach vor Gericht gestellt.

Anwälte und Juristen, die in den Operationen inhaftiert sind, sowie andere Anwälte, die möglicherweise in Istanbul und anderen Provinzen der Türkei inhaftiert werden sollen, werden festgenommen, weil sie als Anwälte derer auftreten, die nach Ansicht der Regierung Dissidenten sind und der Beteiligung am „Terrorismus“ beschuldigt werden.

Bei der von der Staatsanwaltschaft von Ankara durchgeführten Operation wurde gesagt, dass die Anwälte und Rechtspraktikanten 24 Stunden lang niemanden sehen dürften und sie entgegen dem Gesetz 12 Tage lang festgehalten würden. Zu den Informationen gehörte auch, dass es während der Durchsuchungs- und Haftverfahren zu Unregelmäßigkeiten kam und dass Anwältinnen trotz mangelnden Widerstands von hinten mit Handschellen gefesselt wurden.

39 der in Ankara inhaftierten Anwälte*innen wurden am letzten Tag (12. Tag) ihrer Haftzeit mit einem Antrag auf Festnahme an das Friedensstrafgericht verwiesen. Nach der Erklärung, die am Mittwoch, dem 23. September, bis 05:00 Uhr dauerte, beschloss der 3. Friedensstrafgericht von Ankara, 6 Anwälte zu verhaften, 15 Anwälte mit elektronischen Handschellen unter Hausarrest zu stellen und 18 Anwälte müssen Verwaltungsmaßnahmen (zweimal in der Woche sich bei der zuständigen Polizeidirektion melden).

39 Anwälte wurden aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit ihrer Freiheit beraubt. Die Anwälte wurden wegen ihrer beruflichen Tätigkeit und der Ausübung ihrer Tätigkeit, welche sie gemäß den internationalen Normen ausübten, befragt was wiederrum als Beweis für eine Straftat aufgewiesen wurden. Die Befragung, Inhaftierung oder Verhaftung der Anwälte aus diesen Gründen ist ebenfalls ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.

Einige dieser Fragen wurden als Rechtfertigung für die Verhaftung und den Hausarrest der Anwälte*innen gestellt:

  • Wo, wann und in welcher Anwaltskanzlei haben Sie Ihr Rechtspraktikum absolviert?
  • Haben Sie einen Partneranwalt in Ihrer Anwaltskanzlei?
  • Haben Sie jemals in einer anderen Anwaltskanzlei gearbeitet?
  • Welche Art von Fällen nehmen Sie an?
  • Wie viele Fälle haben Sie bisher aufgenommen, wie viele davon sind FETO-Mitglieder?
  • Wie lautet die Adresse Ihrer Anwaltskanzlei?
  • Wie erreichen / finden Ihre Kunden Sie?
  • Schließen Sie einen Vertrag mit Ihren Kunden ab?
  • Wie viele Verträge haben Sie bisher abgeschlossen?
  • Wie zahlen Ihre Kunden Ihre Gebühr?
  • Geben Sie Ihren Kunden eine Zahlungsquittung?
  • Was ist Ihre durchschnittliche Gebühr? Wie bestimmen Sie die Gebühr?
  • Warum haben Sie keine Zahlung von einem bestimmten Kunden erhalten?
  • Warum schlagen Sie Ihren Kunden vor, ihre Aussage zu ändern?
  • Welche Schulen, Kurse und Vorbereitungsschulen haben Sie während Ihrer Ausbildung besucht?
  • Welche Schulen, Kurse und Vorbereitungsschulen haben Ihr Ehepartner und Ihre Kinder besucht?
  • Verwenden Sie Social Media-Plattformen?
  • Wenn ja, welche sozialen Netzwerke nutzen Sie und seit wann?
  • Welche Arten von Posts teilen Sie?

Wie aus diesen Fragen hervorgeht, wurde eine Terroruntersuchung gegen die Anwälte wegen ihrer beruflichen Tätigkeit eingeleitet. Sie wurden von Hunderten von Polizisten festgenommen. Die Entscheidungen über Festnahme und Hausarrest wurden ausschließlich aufgrund der Aktivitäten der Anwälte getroffen.

Es ist ohne Zweifel, dass die breite Interpretation der Definition von „Terror“ in der Türkei politisch ist, und als Instrument von der Regierung benutzt wird, um die kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen und die Opposition zu unterdrücken.[1] Diejenigen, die im Rahmen der anti-Terror Gesetzte verhaftet, inhaftiert und verurteilt werden, sind entgegen der Behauptungen der Regierung nur aufgrund ihrer politischen Ansichten und ihrer Kritik an der Regierung solchen rechtswidrigen Handlungen ausgesetzt.[2]

Nach dem Putschversuch in 2016 wurden mehrere hunderte Anwälte*innen politisch verfolgt und verhaftet. Es begann mit der Konya Anwaltskammer und verbreitete sich landesweit immer intensiver.[3] Bis zum heutigen Tag, wurden 1600 Anwälte*innen festgenommen, 600 wurden verhaftet und 441 sind wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ verurteilt.[4]

Die Verfolgungen und Verhaftungen von Rechtsanwälte*innen, dient für den Zweck die Anwälte*innen zum Schweigen zu bringen, welche die Menschenrechtsverletzungen und Folterfälle der Sicherheitsbehörden in der Türkei vor Gericht tragen und veröffentlichen und damit zu bekämpfen versuchen. 

Die Verfolgung von Anwälten erleichtert Folter und Misshandlung von Inhaftierten und hindert sie daran, die Achtung ihrer grundlegenden Menschenrechte zu verlangen.

Die Tatsache, dass die fraglichen Festnahmen in Ankara durchgeführt wurden[5], die die höchste Anzahl von COVID-19-Infektionen hat, ist ein weiterer Grund zur Sorge. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als der Europarat und die Menschenrechtsorgane der Vereinten Nationen betont haben, dass Haftmaßnahmen wie Verhaftung und Inhaftierung während der Pandemie nicht durchgeführt werden sollten, es sei denn, solche Maßnahmen sind absolut notwendig.

Gemäß den UN-Grundprinzipien zur Rolle der Rechtsanwälte, müssen Regierungen sicherstellen, dass die Anwälte*innen:

a) in der Lage sind, alle ihre beruflichen Funktionen ohne Einschüchterung, Behinderung, Belästigung oder unsachgemäße Einmischung wahrzunehmen,

b) keine strafrechtlichen oder administrativen, wirtschaftlichen oder sonstigen Sanktionen für Maßnahmen erleiden oder angedroht werden, die im Einklang mit anerkannten beruflichen Pflichten, Normen und ethischen Pflichten ergriffen werden,

c) dürfen nicht mit ihren Mandanten oder den Ursachen ihrer Mandanten infolge der Wahrnehmung ihrer Aufgaben identifiziert werden.

Diese Garantien sind kein professioneller Luxus, der Anwälten gewährt wird, sondern eine Notwendigkeit, die Rechte und Freiheiten des Einzelnen zu schützen. Daher sind strafrechtliche Ermittlungen gegen Rechtsanwälte im Rahmen eines besonderen Verfahrens (das zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen beinhaltet) durchzuführen, solange es nicht zu einer Situation von “flagrante delicto” kommt.

Wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (in den Rechtssachen Alparslan Altan + Hakan Bas gegen die Türkei) festgestellt hat, verstößt die Auslegung und Anwendung von flagrante delicto durch die türkische Justiz gegen den Grundsatz der Rechtmäßigkeit und des Rechts auf Freiheit. Dementsprechend stellt die Massenverhaftung von Anwälten mit Polizeirazzien, die seit dem 15. Juli [2016] eine neue Normalität geworden ist, einen offensichtlichen Verstoß gegen das Gesetz dar.

Die Inhaftierung von 60 Anwälte*innen und Jurist*innen, von denen die meisten Frauen sind, ist ein wichtiger Teil des Ziels der Regierung, Anwälte zum Schweigen zu bringen. Wenn man darüber schweigt, werden alle Bürger ihrer Rechte und Freiheiten beraubt.


[1] See: https://spcommreports.ohchr.org/TMResultsBase/DownLoadPublicCommunicationFile?gId=25482

[2] https://arrestedlawyers.org/2020/07/06/abuse-of-the-anti-terrorism-laws-by-turkey-is-steadily-increasing/

“… statistics highlight that Turkish public prosecutors have filed more than 392,000 charges under Article 314 of the Turkish Penal Code within the last seven-years. What is worse, between 2016 and 2019 more than 220,000 individuals have been sentenced for membership of an armed terrorist organisation.”

[3] https://www.hrw.org/sites/default/files/report_pdf/turkey0419_web.pdf

[4] https://arrestedlawyers.files.wordpress.com/2020/07/mass-prosecution-of-lawyers-in-turkey-aug-2020.pdf

[5] https://www.hurriyetdailynews.com/capital-ankara-has-the-highest-number-of-confirmed-cases-in-turkey-minister-157927